Markus Beutler

Literarische Bergwelt

4. Dezember 2024
Ausblick vom Istinden auf Senja, Nordnorwegen (Foto: Markus Beutler)

Nach einem anstrengenden Aufstieg erreichen Sie endlich den Gipfel. Sie setzen sich hin, essen Ihre Brote und geniessen das Panorama. Nach einiger Zeit gesellt sich ein weiterer Bergwanderer zu Ihnen und fängt an, mit Ihnen über die Aussicht zu sprechen. Schnell merken Sie, dass Sie imVergleich zum Mann keine Ahnung von den umliegenden Bergen haben. Zwar haben Sie mithilfe der Karte den einen und anderen Berg identifizieren können. Doch mit diesem Wissen können Sie den Mann kaum beeindrucken. Lächelnd nimmt dieser zur Kenntnis, dass Sie die Gegend nicht wirklich kennen und begnügt sich fortan damit, Ihren Beteuerungen beizupflichten, dass die Aussicht ganz prächtig sei. Dass er mit Ihnen auf einem ganz anderen fachlichen Niveau hat sprechen wollen, realisieren Sie, als kurze Zeit später eine Frau auf dem Gipfel auftaucht und die beiden über einen bestimmten Gletscher links vom dritten Grat, von unsichtbaren Gipfeln, die sich hinter dem mittleren Bergmassiv befinden sollen, von darunter, dahinter und dazwischen liegenden Tälern, von einer Bergstation, die sich zwischen jenem Schneefeld und dieser Felsschlucht liegt, von der Schwierigkeit, sich in dieser Steilwand abzuseilen, von drei alternativen Steigrouten, von Gesteinsarten sprechen...

In dem Vergleich, der hier entwickelt werden soll, steht der Berg, den Sie bestiegen haben, für einen gelesenen Text (Roman, Theaterstück, Gedicht etc.); und die Bergwelt, in der Sie sich bewegen, steht im weitesten Sinne für die gesamte Literaturgeschichte mit kleineren und grösseren Bergen (bekannte oder bedeutende Texte), mit einfachen und schwierigen Bergen (leichter oder aufwändiger zu erarbeitende Texte), mit einzelnen Gebirgsmassiven und Tälern (Epochen) und mit verschiedenen Gebirgszügen (Strömungen innerhalb einer Epoche). Natürlich fehlen in unserer Bergwelt nicht die grossen erratischen Felsblöcke, die – vielleicht aus einem ganz anderen Gestein bestehend – nicht zu den umliegenden Bergen passen wollen und sich doch wunderbar ins Gesamtbild einfügen.

Dieser Vergleich Literatur-Bergwelt lässt sich für den vorliegenden Zusammenhang noch weiter ausreizen...

  1. Wer einen Berg besteigen will, muss Freude am Bergsteigen und Freude am Ausblick haben. Wer sich nur für das Bergsteigen interessiert, hat kein Ziel vor Augen und weiss nicht, wohin die Reise geht. Er achtet sich nur auf seine Füsse und nicht auf die Umgebung. Wer nur wegen des Ausblicks auf den Berg will, wird den Ausblick nicht wertschätzen, weil er ihn nicht erstiegen hat; und wer sich aus Zeitgründen schnell auf den Gipfel fliegen lässt, wird vom Ausblick nichts profitieren, weil er ihn nicht begreifen kann. Ein Berg muss erstiegen werden, weil die Auseinandersetzung mit ihm während des Ersteigens stattfindet.

  2. Es gibt einige Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, wenn jemand einen Berg besteigen will: gutes Schuhwerk für den sicheren Tritt, eine Karte und vielleicht ein Kompass für die Orientierung, gute Kleidung, damit schlechte Witterung das Vorhaben nicht gefährdet, Ausdauer und Kondition, ein funktionierendes Gleichgewicht, Schwindelfreiheit, Proviant und nicht zuletzt Verbandsmaterial für den Notfall.

  3. Ein Berg kann einzig aus dem Grund erstiegen werden, die Aussicht zu geniessen. Der Bergwanderer schaut sich dann die umliegenden Berge an, ergötzt sich am Licht- und Farbenspiel, betrachtet die verschiedenen Formen der Berge und gibt sich träumend der Schönheit der Bergwelt hin. Ein Berg wird aber auch deshalb erstiegen, um mit Hilfe der Aussicht sich noch besser in der Bergwelt orientieren zu können. Stellen wir uns einen Bergsteiger vor, der in einem Berggebiet jeden Gipfel mehrfach auf verschiedenen Wegen ersteigt. Mit jedem Berggang und jeder Aussicht, die der Bergsteiger sich verinnerlicht hat, wird seine Vorstellung vom Gebiet komplexer und genauer. Er kennt jeden Berg von verschiedenen Seiten und er weiss von den Tälern, Schluchten und Abhängen, die man nur von dieser oder jener Stelle aus sehen kann. Seine Orientierung wird langsam gefestigt und endlich versteht er das Berggebiet so, als könne er darüber fliegen.

  4. Je mehr Berge Sie in einem Berggebiet resp. je öfter Sie einen Berg erstiegen haben, desto tiefgründiger, komplexer und intelligenter können Sie über das Berggebiet resp. über den Berg selber sprechen. Je besser Sie ein Gebiet resp. einen Berg kennen, desto interessanter wird für Sie die Auseinandersetzung damit, da Ihnen immer mehr Zusammenhänge bewusst werden und da Sie sich aufgrund Ihrer Vorkenntnisse noch besser auf Details und bisher Unbemerktes achten können.

  5. Schwierig zu ersteigende Berge müssen nicht zwingend die beste Aussicht bieten. Und kleine Berge sind nicht immer leicht zu erklimmen.

  6. Je schwieriger der Berg, desto stärker müssen Sie sich auf den Weg achten. Und oft gibt es mehrere Wege, die vielversprechend erscheinen und nach oben führen; nicht selten führt am Schluss aber nur noch eine Route zum Gipfel, der die volle Aussicht garantiert.

  7. Wie es mehrere Wege und Routen gibt, einen Berg zu ersteigen, so gibt es auch verschiedene Hilfsmittel, die einem dabei unterstützen. Während der Berg für den einen allein mit guten Schuhen erklimmbar ist, muss der andere sich mit dem Seil sichern, wieder andere brauchen Gehstöcke. Der Gipfel ist aber auch mit der Gondelbahn erreichbar und die ganz Faulen lassen sich mit dem Helikopter hochfliegen. Ausserdem eröffnet sich im Winter, wenn der grosse Wasserfall gefroren ist, eine besonders schöne Senkrechtroute, bei der man Pickel, Steigeisen und Eisnägel braucht.

  8. Und schliesslich kann man den Berg auch in verschiedener Weise ersteigen. Man kann ganz normal gehen, den einen Fuss vor den anderen setzen. Kann könnte aber vielleicht auch rückwärts gehen oder kriechen. Man kann beim Steigen lachen, weinen oder fluchen. Und wenn man oben angekommen ist, kann man sich für die Aussicht die Sonnenbrille aufsetzen. Oder die Aussicht nur durch das Objektiv einer Weitwinkelkamera oder eines Fernrohrs betrachten. Ganz besonders reizvoll ist es, sich auf dem Gipfel die Augen zu verbinden, um sich besser auf die Eindrücke der weiteren Sinnesorgane zu achten.

Abschliessend bleibt zu fragen, wie Literaturgeschichte am Gymnasium vermittelt werden sollte. Soll es darum gehen, möglichst viele verschiedene Berge schnell zu ersteigen, um einen möglichst grossen Überblick zu gewinnen? Oder sollte ein Schwerpunkt auf die Vermittlung der Bergsteigtechnik gelegt werden? Oder sollte ein Berg mehrmals bestiegen werden?